Als ich am 5. Mai 2018 aus dem Flugzeugfenster schaue, bin ich tief bewegt von den unvorstellbaren Dimensionen des Himalayas. Berge über 7.000 Meter, Eis und Gestein aller Couleur, bis ans Ende meines Sichtfeldes. Im Vorjahr war ich bereits am Everest in Nepal, aber diese Weite hier, hat meine Vorstellungen noch einmal übertroffen. Der Plan war abseits der Zivilisation Menschen zu porträtieren und hier in Ladakh war klar, dass auf der geplanten Tour, definitiv nicht viele Menschen leben. – Dass ich ausgerechnet hier im Nirgendwo, von drei deutschsprachigen Frauen und einem buddhistischen Mönch durch das Hochgebirge, bis hin zum Kloster Lingshed geführt werde, kam mir da noch nicht in den Sinn.

Nachdem ich eine Woche lang mit einer Royal Enfield – dem indischen Motorradklassiker, durch das atemberaubende Nubra-Tal fuhr, führte mich der nächste Abschnitt meiner Reise durch das buddhistisch geprägte Ladakh, entlang des Zanskar Flusses. Der Chadar-Trek wie er auch genannt wird, ist für seine Gefährlichkeit im Winter berühmt. Die Menschen passieren ihn in den Wintermonaten selten und nur aufgrund wichtiger Anlässe. Familienmitglieder führen die Kinder über das gefährliche Eis, um sie in die Klosterschulen zu bringen und ihnen damit die einzige Option auf Schulbildung zu ermöglichen.

Ein wenig blauäugig plante ich meine Tour. So war ist zwar gut ausgerüstet, aber die Distanzen in dieser Berglandschaft hatte ich überschätzt. Die mir von den Einheimischen vorgeschlagenen Tagesetappen, hätte ich mit meinen circa sieben Kilogramm zusätzlichem Fotografie-Equipment nur schwer alleine geschafft. Einen Guide durch das Gebirge kam für mich nicht in Frage, da es mich in Myanmar schon einmal von meiner Art zu Fotografieren ablenkte.

Und so machte ich mich zu Fuß auf den Weg und begegnete am Nachmittag des 10. Mai 2018 zum ersten Mal dem buddhistischen Mönch, Lama Thsepel.
Einen Kilometer vor meinem Tagesziel und einen langen Fußmarsch hinter mir, überholte mich das erst dritte Auto an diesem Tag und machte halt in dem kleinen Dorf Hanupatta. Als ich endlich eintrudelte, warteten bereits der Mönch, sein Fahrer und drei Frauen mit einem Tee auf mich zur Stärkung.
Was für eine Mischung – Michaela, Fitnesscoach aus der bayrischen Provinz; Helga, ein Engel aus Tirol und die träumerische Deutschgriechin Martha aus Herrenberg bei Tübingen. – Es fühlte sich an, als ob ich hier meiner Nachbarin über den Weg laufe.
Auf über 4000 Meter treffe ich Zivilisationsflüchtlinge, also auf drei gut gelaunte Damen, mit einem immer schelmisch lachenden Mönch an ihrer Seite. – Das war ein Zeichen! Als sie mich fragten, ob sie mich zu meinem nächsten Tagesziel mitnehmen können, musste ich nicht lange überlegen mich anzuschließen. Zäh waren die ersten Tage in der Höhe ohnehin schon und dieser Trip versprach mir Spannendes.

Mit privaten Spenden aus der Heimat, ermöglicht Helga Jahr für Jahr, immer wieder kleinere Hilfslieferungen an tibetische Familien in Nepal und Ladakh – und Lama Thsepel, der spirituelle Lehrer des Klosters Lingshed, organisiert für sie hier die Einkäufe auf den Märkten, die Touren in die Dörfer und gibt acht, dass die Hilfen gerecht und sinnvoll bei den Menschen ankommen. Michaela, ist Personaltrainerin in den Endzwanzigern und gibt im bayrischen Marktoberdorf zudem wunderbare Akrobatikkurse für Kinder. Martha, ist Dekorateurin für Modefirmen und organisiert in Herrenberg jährlich Visiten, eines tibetischen Arztes, ein Freund des Dalai Lama. Beide kennen Helga schon viele Jahre und waren zu ihrer Unterstützung des Hilfprojekts dabei.

Aus einem Tag wurden mehrere Wochen, in den ich immer wieder mit Lama Thsepel und den Frauen unterwegs war. Als wir nach einer Nacht in dem wunderschön gelegenen Bergdorf Photoksar mit dem Auto nicht mehr weiterkamen, ging es zwei Tage lang zu Fuß weiter, über den 5000 Meter hohen “Senge La” Pass. Lama Thsepel kochte für uns auf seinem Kerosinkocher und schaute, dass es uns in der Höhe gut ging. Auf unserem gemeinsamen Weg machte er mich immer wieder mit Dorfbewohnern bekannt, sodass ich mit Ihnen leicht in Kontakt kam und sie in aller Ruhe porträtieren konnte.
Wie schon so oft in Asien, wurde auch hier im Hochland, die Kommunikation zwischen mir und den Menschen vor der Kamera, auf die Körpersprache und somit auf das Wesentliche reduziert. Denn diese Momente, in denen mich die Sprache nicht vom gegenwärtigen Moment ablenkt, sind es, die für mich als Fotograf so enorm spannend sind. Dabei gehe ich in einen fast meditativen Zustand über, in denen meine besten Fotografien entstehen. Genau in diesen Momenten, in denen ich mich zu einhundert Prozent auf Menschen einlasse, verschmelze ich mit den Menschen. Denn nicht nur der Fotograf, nein auch der zu Porträtierende beobachtet sein Gegenüber nämlich ganz genau. Umso mehr sich beide vertrauen, umso mehr habe ich als Fotograf die Möglichkeit, ein Stück ihrer Persönlichkeit einzufangen.

In Gongma schliefen wir in Lama Thsepel´s Elternhaus. Von dort aus ging es weiter nach Lingshed, wo ich eine knappe Woche mit den Mönchen im Kloster zusammenlebte und an ihrem Klosterleben teilhaben durfte. Die Stellung von Lama Thsepel in der Region ist mir nicht ganz klar geworden, aber dass er dort einen hohen Stellenwert bei den Menschen und anderen Mönchen besaß, wurde schnell sichtbar. Er organisierte mit einer Bestimmtheit und Ruhe, allerlei Dinge und alle paar Jahre leitet er für eine gewisse Zeit ein anderes Kloster in der Gegend und kümmert sich um die Menschen in der Region rund um Leh. Er ermöglicht Kindern die Schulbildung und bemüht sich, dass die Dorfbewohner auch im harten Winter gut versorgt sind. Die Tage im Kloster gingen zu Ende und so machte ich mich mit zwei Eseln an meiner Seite auf den Weg in das islamisch geprägte Kargil. Auch dieser Weg führte mich hoch hinaus auf über 5000 Meter und gab mir die Möglichkeit zum Nachdenken. Beinahe in Trance bewegt man sich in solchen Höhen.
In Kargil und somit zurück in der Zivilisation, trat ich dann in eine ganz andere Kultur ein. Auf den Straßen sieht man nur wenig Frauen und viele Männer versammeln sich täglich, um als Tagelöhner Arbeit zu finden. Die Ressentiments gegenüber Amerikanern spürt man hier deutlich und auf Grund des nahen Grenzkonflikts mit China ist die Stimmung hier doch gedrückter als in den Bergen. Nachdem ich hier ein paar Tage verweilte und viele Porträts mit den Stadtbewohnern von Kargil im Kasten hatte, traf ich mit großer Freude die drei Frauen und Lama Thsepel in Leh wieder. Dort nahm ich mit ihnen an einem tibetisch-schamanischen Ritual teil und verbrachte gesegnet und gut gelaunt, die restliche Zeit in der geringeren Höhe.

Immer wieder erinnere ich mich gerne an die gemeinsame Zeit, die ich mit Lama Thsepel verbrachte, zurück. Neben den Erinnerungen des gemeinsamen Weges, auf dem wir teilweise stundenlang, ohne ein Wort zu sprechen, nebeneinanderher liefen, ist mir besonders ein Fenster im Zimmer des Mönches in Erinnerung geblieben. Dieses Fenster beschreibt für mich die Lebenseinstellung dieses buddhistischen Mönches perfekt. Die Scheibe in diesem kleinen Raum war gesprungen und Lama Thsepel reparierte den Riss kurzerhand mit mehreren Heftpflastern quer über das Fenster. Als ich das, dass erstes Mal sah, machte sich jenes schelmische Lachen in meinem Gesicht breit, das ich vorher so oft bei ihm gesehen hatte. Diese Unbekümmertheit und dass man mit wenigen Mitteln trotzdem sein Bestes geben, das ist es, was mich fort an, für immer begleitet.